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Es ist in der Vergangenheit nicht selten vorgekommen, dass auch sogenannte Altschäden noch zur Haftung führten, wenn die Beweislage dies aufgrund vorhandener Krankenblattaufzeichnungen erlaubte. Das OLG Hamm hat nun, bestätigt durch den Bundesgerichtshof, entschieden, dass es nicht zum Nachteil des Arztes gereichen darf, wenn nach Ablauf der 10-Jahres-Grenze zur Aufbewahrung ärztlicher Krankenblattaufzeichnungen der Patient Behandlungsfehler nicht beweisen kann. Dazu im Einzelnen:
1. Die Geburt fand im Oktober 1981 per Vakuumextraktion statt. Nach der Geburt wurden Auffälligkeiten festgestellt, die zur weiteren Verlegung und Behandlung in der Kinderklinik führten. Das Kind weist heute schwerste neurologische Defizite auf, ist tetraspastisch und blind. Die Klägerin hat behauptet, dass das Kind früher hätte durch Sectio geboren werden müssen und die Verzögerung der Geburt grob fehlerhaft war. Sie war der Auffassung, dass das nicht vorhandene CTG und die extrem lückenhafte Dokumentation des Geburtsprotokolls ihr nicht zum Nachteil gereichen dürfen, im Gegenteil, zu ihren Gunsten eine Pathologie des CTGs zu unterstellen sei. Auch sei die Indikation zur Vakuumextraktion fraglich, im Übrigen sei der Zustand des Kindes nach der Geburt zumindest inditiell beweisend für eine Verschlechterung des Kindes im vorangegangenen Zeitraum. Beide bemühten Gutachter, Prof. Dr. O. und Prof. Dr. S., konnten aufgrund der teils nicht vorhandenen, teils extrem lückenhaften Dokumentation keine Behandlungsfehler positiv feststellen.
2. Das OLG stellt fest, dass keine Beweiserleichterungen sich für den Kläger aus der Tatsache ergeben, dass jedenfalls seit der Geltendmachung der Ansprüche die CTG-Streifen nicht oder nicht mehr vorliegen. Grundsätzlich sind Krankenunterlagen so lange aufzubewahren, wie sie eine medizinische Relevanz besitzen können. Abgesehen von gesetzlich normierten Aufbewahrungspflichten (z. B. Strahlenschutzverordnung oder Röntgenverordnung) finden sich solche gesetzlichen Vorgaben mit Blick auf die Aufbewahrung von CTG-Aufzeichnungen nicht. Deshalb gibt es in dem hier konkret zu entscheidenden Fall aus Sicht des OLG keinen Anlass, eine längere Aufbewahrungszeit als 10 Jahre zu fordern. Diese 10-Jahres-Frist war bei Geltendmachung der Ansprüche im Jahre 1995 bei Weitem überschritten. Braucht aber der Arzt als Krankenhausträger die Krankenunterlagen nicht länger aufzubewahren, darf ihm wegen derer Vernichtung oder wegen eines Verlustes hieraus kein Nachteil mehr entstehen. Wenn dem aber so ist, so kann zu seinen Lasten auch nicht angenommen werden, dass das CTG Auffälligkeiten zeigte, die zu einem geburtshilflichen Einsatz, insbesondere zu einer vorzeitigen Geburtsbeendigung Anlass gaben.
3. Auch die Dürftigkeit der vorhandenen geburtshilflichen Dokumentation, insbesondere des Geburtsprotokolls, führt nicht zu Beweiserleichterungen zugunsten der Klägerin. Hierzu führt das OLG aus:
Die Pflicht des Arztes zur Dokumentation erfolgt in erster Linie als notwendige Grundlage für die Sicherheit des Patienten in der Behandlung. Sie zielt nicht auf eine Beweissicherung für den Haftungsprozess des Patienten und bietet dem Patienten bei ihrem Fehlen oder bei Dokumentationslücken keine eigene Anspruchsgrundlage für die ärztliche Haftung (Steffen/Dressler a. a. O. Rn. 455 und 464; jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH). Entfällt der Grund für die Sicherung des Patienten durch die gebotene Dokumentation und gibt es auch ansonsten keinen medizinischen Grund für deren Aufbewahrung, so braucht diese Dokumentation auch nicht länger aufbewahrt zu werden. Bilden die Krankenunterlagen keine Anspruchsgrundlage für eine Inanspruchnahme des Arztes und finden sie ihre Rechtfertigung nicht in der zivilrechtlichen haftungsrechtlichen Beziehung des Arztes zu seinem Patienten, so kann sich aus diesem Aspekt auch keine Grundlage für eine weitere Aufbewahrungspflicht ergeben. Umgekehrt berechtigt etwa den Arzt aber auch nicht die zivilrechtliche Verjährung zur Vernichtung seiner Dokumentation, wenn medizinisch deren weitere Verwahrung geboten ist. Wie bereits ausgeführt, geben Gesetz und Rechtsverordnung teilweise Fristen vor. Fehlen diese, wird man in der Regel davon ausgehen können, dass nach einem Ablauf von zehn Jahren seit der Behandlung eine medizinische Grundlage für die längere Aufbewahrung nicht mehr besteht.
Zur Überzeugung des Senates ist das auch bei Geburtsfällen nicht anders. Der eigentliche Geburtsverlauf neben allen Einzelheiten wird in aller Regel nur noch in Haftungsfällen Relevanz erhalten, nicht jedoch aus medizinischer Betrachtung heraus. So spielt die Dokumentation vorliegend ebenfalls nur im Hinblick auf die zivilrechtliche Haftung des Bekl. eine Rolle. Die beteiligten Ärzte einschließlich der tätig gewordenen Privatgutachter mögen wegen des Zeitablaufs und der dürftigen oder fehlenden Dokumentation medizinische Schlussfolgerungen nicht wie gewünscht ziehen können. Diese sollen jedoch vorliegend ausschließlich als Grundlage der begehrten Haftung des Bekl. dienen, nicht der medizinischen Behandlung der Versicherten. So ist die Kl. offenbar nur aus Gründen der Anspruchstellung auf die Idee gekommen, die geburtshilflichen Unterlagen beizuziehen. Zuvor hat kein Mediziner Anlass gesehen, im Rahmen der Behandlung der Versicherten das Partogramm beizuziehen oder nach dem CTG zu fragen.
Besteht damit aus medizinischen Gründen grundsätzlich keine Notwendigkeit, Behandlungsunterlagen länger als zehn Jahre aufzubewahren, so darf zur Überzeugung des Senates nach Ablauf der Aufbewahrungszeit dem Arzt aus ihrem Fehlen kein Nachteil erwachsen. Denn der Arzt hätte mit Ablauf dieses Zeitraums die Unterlagen ebenso gut vernichten dürfen, ohne dass ihm Nachteile entstünden. Erwächst ihm aber aus dem Fehlen der Krankenunterlagen als solche kein Nachteil, dann darf ihm juristisch und nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist auch aus deren Unvollständigkeit kein Nachteil erwachsen. Nicht anders zu bewerten ist die mangelhafte Dokumentation. Juristisch steht die fehlende Dokumentation der unvollständigen oder mangelhaften gleich.
Selbstverständlich können die Krankenunterlagen auch nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist zur Haftung des Arztes führen, wenn sie noch vorhanden sind und die fehlerhafte Behandlung des Arztes belegen. Vor der dokumentierten Fehlerhaftigkeit des ärztlichen Handelns sind nicht nur deshalb die Augen zu verschließen, weil die Aufbewahrungsfristen verstrichen sind. Nach Ablauf der Aufbewahrungszeit führen jedoch Dokumentationsversäumnisse insbesondere nicht (mehr) zu Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten, so dass es bei seiner vollen Darlegungs- und Beweislast verbleibt. Nach diesen Grundsätzen hat die Kl. wie im Einzelnen dargelegt den ihr obliegenden Beweis fehlerhaften Handelns des Bekl. nicht erbracht.
4. Der Bundesgerichtshof hat die Zulassungsbeschwerde nicht angenommen und festgestellt, dass die beweisrechtlichen Folgen sowohl des gänzlichen Fehlens als auch der Unvollständigkeit einer medizinisch gebotenen Dokumentation in der Rechtsprechung geklärt sei. Der vorliegende Fall werfe keine ungeklärten oder klärungsbedürftigen Fragen auf, das Berufungsgericht habe auch keinen von der gesicherten Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz aufgestellt, so dass das Urteil keine Rechtsfehler erkennen lasse.
5. Kommentar: Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass nach wie vor gilt, dass eine Befundsicherungspflicht dann besteht, wenn innerhalb der 10-Jahres-Grenze Ansprüche angemeldet werden. Wenn im 9. Jahr Ansprüche angemeldet werden, dürfen die Unterlagen nicht nach 10 Jahren ab Geburt vernichtet werden, damit sie in einem Gerichtsverfahren später nicht mehr zur Verfügung stehen. Hinsichtlich der CTG-Aufzeichnungen war die 10-Jahres-Grenze, die in der ärztlichen Berufsordnung normiert ist, schon immer ein Problem. Insofern ergibt sich nichts Neues. Dies betrifft aber nur Fälle, wenn erstmals nach Ablauf der 10 Jahre Haftungsansprüche angemeldet worden sind. Interessant ist der Hinweis des Senates, dass selbstverständlich die Krankenunterlagen auch nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist zur Haftung führen können, wenn sie denn noch vorhanden sind und vorgelegt werden. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl dürfte wohl dazu führen, dass entweder die Krankenhausarchive konsequenter aufgeräumt werden oder aber im Einzelfall sich der Arzt auf Vernichtung beruft.
Von besonderem Interesse sind aber die Ausführungen hinsichtlich der sonstigen Dokumentation, insbesondere des Geburtsprotokolls. Hierzu sagt der Senat, dass dem Arzt aus der Dürftigkeit der Dokumentation deshalb keine Nachteile erwachsen dürfen, weil er diese ja auch vollständig hätte vernichten können. Juristisch steht insofern die fehlende Dokumentation der unvollständigen oder mangelhaften gleich. Diese Argumentation halte ich für widersprüchlich insbesondere deshalb, weil dieser Feststellung der Hinweis folgt, dass selbstverständlich die Krankenunterlagen auch nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist zur Haftung des Arztes führen können, wenn sie denn noch vorhanden sind und die fehlerhafte Behandlung des Arztes belegen.
Im vorliegenden Fall wurde eben ein solches Krankenblatt in Form eines Geburtsprotokolls vorgelegt. Der Mangel in der Dokumentation bestand nicht etwa deshalb, weil Teile des Geburtsprotokolls vernichtet wurden, sondern darin, dass die maßgeblichen Befunde, insbesondere zur Indikation der Vakuumextraktion nicht dokumentiert waren. Auch die Dokumentation hinsichtlich der Nachsorge war wohl äußert mangelhaft. Dieser Mangel haftete dem Geburtsprotokoll aber nicht erst nach Ablauf von 10 Jahren an, sondern bestand von Anfang an. Wenn der Arzt solche Unterlagen vorlegt, dann muss er aus diesseitiger Sicht auch die Mangelhaftigkeit der von Anfang an mangelhaften Dokumentation beweisrechtlich zu vertreten haben. Ob im vorliegenden Rechtsstreit dieser Gedanke vertieft wurde, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Aus meiner Sicht ist dieser Fall hier nicht anders zu beurteilen, als derjenige, den wir vor geraumer Zeit abgeschlossen haben. In den Mutterschaftsrichtlinien bestand keine Notwendigkeit, die Patientin auf Toxoplasmose zu untersuchen. In unserem Fall hatte der Arzt dies aber getan, einen Befund dokumentiert, danach aber nicht mehr reagiert. Das Ergebnis war ein geschädigtes Kind aufgrund einer Toxoplasmoseembriopathie. Der Arzt wurde verurteilt, obwohl er nicht per se verpflichtet gewesen wäre, den Toxoplasmosetiter zu erheben.
Das Urteil wird uns in Zukunft erhebliche Schwierigkeiten bereiten zumindest bei Fällen, die erst nach Ablauf von 10 Jahren seit der Geburt geltend gemacht werden. Vorausgesetzt, dass bis dahin Ansprüche nicht schon verjährt sind, muss damit gerechnet werden, dass nach Ablauf von 10 Jahren der Arzt keine Unterlagen mehr vorlegt, die ihn belasten könnten. Beweiserleichterungen aus dem Fehlen von Krankenblattaufzeichnungen oder deren Unvollständigkeit kommen dem Patienten nicht zugute. Darauf muss auch der Anwalt in der Beratung hinweisen. Bekanntlich beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist von 3 Jahren mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Patient von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Diese Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände, die auf den Behandlungsfehlervorwurf abstellen, können natürlich erst nach 10 Jahren auch ohne grobe Fahrlässigkeit vorhanden sein. Dann jedenfalls könnte man nur noch von Glück sagen, wenn tatsächlich die Krankenunterlagen so beweiskräftig sind und auch vorgelegt werden, dass sich darauf ein Haftungsanspruch stützen lässt.
Im Ergebnis ist also festzustellen, dass der Anwalt zunächst wie üblich die Verjährung zu prüfen hat, insbesondere Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände oder grob fahrlässige Unkenntnis und dann, wenn 10 Jahre schon ins Land gezogen sind und Verjährung noch nicht anzunehmen ist, vielleicht einen befreundeten Arzt bittet, die Krankenblattaufzeichnungen kollegialiter anzufordern. Jedenfalls sollte man nicht, wie manchmal zu sehen, den Arzt beschuldigen und gleichzeitig die Krankenblattaufzeichnungen anfordern. Es ist davon auszugehen, dass diese Entscheidung des OLG-Senates auch in ärztlichen Publikationen an dominanter Stelle Eingang findet, so dass in Kürze von einer flächendeckenden Kenntnisnahme auszugehen ist. Altfälle sollten nicht per se zur Seite gelegt werden, sie müssen aber mit einer gewissen Sensibilität anfänglich bearbeitet werden.
Hennef, 31.03.2005
Jürgen Korioth
Rechtsanwalt